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Namasté

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Donnerstag, 16. September 2010

Tonal und Nagual

„Ich werde dir jetzt etwas über das Tonal und das Nagual erzählen“, sagte Don Juan und sah mich eindringlich an.
Dies war das erste Mal, seit wir uns kannten, dass er diese beiden Begriffe erwähnte. Aus der anthropologischen Literatur über die Kulturen Zentralmexikos war ich ungefähr mit ihnen vertraut. Ich wusste, dass das „Tonal“ (ausgesprochen tohna’hl) als eine Art Schutzgeist – in der Regel ein Tier – vorgestellt wurde, den ein Kind bei der Geburt erhielt und mit dem es sein Leben lang eine enge Beziehung unterhielt. „Nagual“ (ausgesprochen: nah’wa’hl) war der Name des Tieres, in das ein Zauberer sich angeblich verwandeln konnte, oder des Zauberers, der eine solche Verwandlung vornahm.
„Dies ist mein Tonal“, sagte Don Juan und strich sich mit den Händen über die Brust.
„Dein Anzug?“
„Nein, meine Person.“
Er klopfte sich auf die Brust, die Schenkel und die Rippen.
„All dies ist mein Tonal.“
Er erklärte, dass jeder Mensch zwei Seiten habe, zwei getrennte Wesenheiten, zwei Gegenstücke, die im Augenblick der Geburt ihr Dasein aufnehmen; das eine heiße „Tonal“, das andere das „Nagual“.

„Ich möchte sagen, Tonal und Nagual sind ausschließlich den Wissenden zugänglich. In deinem Fall ist dies sozusagen der Deckel, der alles abschließt, was ich dich bisher gelehrt habe, um dir davon zu erzählen.
Das Tonal ist nicht ein Tier, das über einen Menschen wacht. Eher könnte man sagen, es ist ein Wächter, den man sich als ein Tier vorstellen kann. Aber dies ist nicht die entscheidende Frage.“
Er lächelte und zwinkerte mir zu.
„Ich will jetzt mal deine Worte gebrauchen“, sagte er. „Das Tonal ist die soziale Person.“
Er lachte, wie ich annahm, über mein bestürztes Gesicht.
„Das Tonal gilt, mit Recht, als ein Beschützer, ein Wächter – ein Wächter, der sich meistens in einen Wärter verwandelt.“

„Das Tonal ist der Organisator der Welt“, fuhr er fort. „Vielleicht kann man seine gewaltige Arbeit am besten beschreiben, wenn man sagt, dass auf seinen Schultern die Aufgabe ruht, das Chaos der Welt zu ordnen. Es ist nicht zu weit hergeholt, wenn man – wie die Zauberer – behauptet, dass alles, was wir als Menschen wissen und tun, das Werk des Tonal ist.
Im Augenblick zum Beispiel ist es dein Tonal, das versucht, unser Gespräch zu verstehen. Ohne dieses gäbe es nur komische Geräusche und Grimassen, und du würdest nichts von alledem verstehen, was ich sage.
Ich sage also, das Tonal ist ein Wächter, der etwas Kostbares bewacht, unser ganzes Sein. Daher ist es eine wesentliche Eigenschaft des Tonal, dass es bei seinem Tun vorsichtig und bedachtsam ist. Und da seine Taten der bei weitem wichtigste Teil unseres Leben sind, ist es kein Wunder, dass es sich schließlich bei jedem von uns aus einem Wächter in einen Wärter verwandelt.“
Er hielt inne und fragte mich, ob ich verstanden hätte. Automatisch nickte ich bestätigend, und er lächelte mit ungläubiger Miene.
„Ein Wächter ist großzügig und verständnisvoll“, erklärte er. „Ein Wärter dagegen ist ein Sicherheitsorgan, engherzig und meistens despotisch. Ich behaupte also, dass das Tonal bei uns allen zu einem kleinlichen, despotischen Wärter gemacht wird, während es doch ein großzügiger Wächter sein sollte.“
Zweifellos konnte ich dem Gang seiner Erläuterung nicht folgen. Ich hörte zwar jedes Wort und schrieb es mit, und doch hing ich irgendwie einem eigenen inneren Dialog nach.
„Es fällt mir sehr schwer, dir zu folgen“, sagte ich.
„Würdest du dich nicht an dein Selbstgespräch klammern, dann hättest du keine Schwierigkeiten“, sagte er scharf.
Diese Bemerkung veranlasste mich zu einer langen, weitschweifigen Erklärung. Schließlich fing ich mich wieder und entschuldigte mich für meine beharrliche Selbstrechtfertigung.
Er lächelte und machte eine Gebärde, die anzudeuten schien, dass er sich nicht wirklich über mein Verhalten geärgert hatte.
„Das Tonal, das ist alles, was wir sind“, fuhr er fort. „Schau dich um! Alles, wofür wir Wörter haben, ist das Tonal. Und da das Tonal nichts anderes ist als sein eigenes Tun, muss folglich alles in seine Sphäre fallen.“

„Ich verstehe noch immer nicht, Don Juan, was du mit der Feststellung meinst, dass das Tonal Alles sein soll“, meinte ich nach kurzer Pause.
„Das Tonal ist das, was die Welt schafft.“
„Ist das Tonal der Schöpfer der Welt?“
Don Juan kratzte sich am Kopf.
„Das Tonal schafft die Welt – das ist nur eine bildliche Redeweise. Es kann nichts erschaffen oder verändern, und doch schafft es die Welt, denn es ist seine Funktion, zu urteilen, zu bewerten und zu bezeugen. Ich sage, das Tonal schafft die Welt, denn es bezeugt und bewertet sie gemäß den Regeln des Tonal. Auf ganz seltsame Weise ist das Tonal ein Schöpfer, der nichts erschaffen kann. Mit anderen Worten, das Tonal stellt die Regeln auf, nach denen es die Welt begreift. Also erschafft es sozusagen die Welt.“

„Das Tonal ist eine Insel“, erklärte er. „Am besten kann man es beschreiben, wenn man sagt, dies hier ist das Tonal.“
Er strich mit der Hand über die Tischplatte.
„Man kann sagen, das Tonal ist wie diese Tischplatte. Eine Insel. Und auf dieser Insel haben wir alles mögliche. Diese Insel ist also die Welt.
Hier gibt es ein persönliches Tonal für jeden von uns, und da ist zu jedem gegebenen Zeitpunkt ein kollektives für uns alle, das wir als das Tonal der Zeiten bezeichnen können.“
Er deutete auf die Tischreihen im Restaurant.
„Schau! Jeder Tisch zeigt das gleiche Bild. Auf allen gibt es gewisse Gegenstände. Doch sie unterscheiden sich im einzelnen voneinander. Auf manchen Tischen findet sich mehr als auf anderen. Verschiedene Speisen stehen auf ihnen, verschiedene Teller, da ist eine unterschiedliche Atmosphäre, und doch müssen wir zugeben, dass alle Tische in diesem Restaurant sich sehr ähnlich sind. Das gleiche gilt für das Tonal. Man kann sagen, es ist das Tonal der Zeiten, was uns einander ähnlich macht, genau wie es alle Tische im Restaurant sich gleich lässt. Dennoch ist jeder Tisch für sich ein Einzelfall, genau wie das persönliche Tonal eines jeden von uns. Doch das entscheidende Faktum, das wir nicht vergessen dürfen, ist, dass alles, was wir über uns selbst und unsere Welt wissen, sich auf der Insel des Tonal befindet. Siehst du, was ich meine?“
„Wenn das Tonal all das ist, was wir über uns und unsere Welt wissen, was ist dann das Nagual?“
„Das Nagual ist derjenige Teil von uns, der uns ganz unzugänglich ist.“
„Wie bitte?“
„Das Nagual ist der Teil von uns, für den es keine Beschreibung gibt – keine Wörter, keine Namen, keine Gefühle, kein Wissen.“
„Das ist ein Widerspruch, Don Juan. Wenn es nicht gefühlt oder beschrieben oder benannt werden kann, dann kann es meiner Meinung nach nicht existieren.“
„Nur deiner Meinung nach ist es ein Widerspruch. Ich habe dich schon gewarnt, bring dich nicht um im Bemühen, dies zu verstehen.“
„Würdest du sagen, dass das Nagual der Geist ist?“
„Nein. Der Geist ist nur ein Gegenstand auf dem Tisch. Der Geist ist Teil des Tonal. Sagen wir mal, der Geist ist diese Chiliflasche.“
Er nahm eine Gewürzflasche und stellte sie vor mir auf den Tisch.
„Ist das Nagual die Seele?“
„Nein. Auch die Seele gibt es auf dem Tisch. Nehmen wir einmal an, die Seele sei der Aschenbecher.“
„Sind es die Gedanken der Menschen?“
„Nein. Auch die Gedanken sind auf dem Tisch. Die Gedanken sind das Besteck hier.“
„Ist es ein Zustand der Gnade? Der Himmel?“
„Nein, das auch nicht. Das, was es auch sein mag, ist ebenfalls Teil des Tonal. Sagen wir, es sei die Serviette.“
Ich fuhr fort und zählte alle Möglichkeiten der Beschreibung auf für das, was er meinen mochte: Intellekt, Psyche, Energie, Lebenskraft, Unsterblichkeit, Lebensprinzip. Für jeden Begriff, den ich nannte, fand er auf dem Tisch einen Gegenstand, den er als Gegenstück benutzte und vor mir aufbaute, bis er alle auf dem Tisch befindlichen Objekte auf einem Haufen versammelt hatte.
Don Juan schien die ganze Sache ungeheuren Spaß zu machen. Er kicherte und rieb sich die Hände, sooft ich eine weitere Möglichkeit erwähnte.
„Ist das Nagual das höchste Wesen? Der Allmächtige, Gott?“
„Nein. Auch Gott gibt es auf dem Tisch. Nehmen wir an, Gott sei das Tischtuch.“
Er machte eine spaßige Gebärde, als wolle er das Tischtuch an den Zipfeln hochheben, um es über die anderen Gegenstände zu breiten, die er vor mir aufgestellt hatte.
„Aber sagtest du nicht, dass Gott nicht existiert?“
„Nein. Das habe ich nicht gesagt. Ich sagte nur, dass das Nagual nicht Gott ist, denn Gott ist ein Gegenstand unseres Tonal und des Tonal der Zeiten. Wie schon gesagt, das Tonal ist alles, woraus die Welt sich, wie wir glauben, zusammensetzt – einschließlich Gott, natürlich. Gott hat nicht mehr Bedeutung, als dass er ein Teil des Tonal unserer Zeiten ist.“
„In meinem Verständnis, Don Juan, ist Gott alles. Sprechen wir überhaupt über dasselbe?“
„Nein. Gott ist nur all das, was du zu denken vermagst, daher ist er, genauso genommen nur einer unter den Gegenständen auf der Insel. Man kann Gott nicht willentlich erleben, man kann nur über ihn sprechen. Das Nagual hingegen steht dem Krieger zu Gebot. Man kann es erleben, aber man kann nicht darüber sprechen.“
„Wenn das Nagual keines der Dinge ist, die ich genannt habe, kannst du mir dann vielleicht etwas über seinen Aufenthaltsort sagen? Wo ist es?“
Don Juan fegte mit der Hand durch die Luft und wies auf den Raum außerhalb der Tischkante. Er bewegte die Hand, als wollte er eine imaginäre Oberfläche säubern, die über die Kanten des Tisches hinausreichte.
„Das Nagual ist dort“, sagte er. „Dort, es umgibt die Insel. Das Nagual ist dort, wo die Kraft schwebt.
Vom Augenblick unserer Geburt an fühlen wir, dass wir aus zwei Teilen bestehen. Zum Zeitpunkt der Geburt und noch kurz danach sind wir nur Nagual. Dann fühlen wir, dass wir, um zu funktionieren, ein Gegenstück zu dem brauchen, was wir haben. Was fehlt, ist das Tonal, und dies gibt uns von Anfang an das Gefühl der Unvollkommenheit. Dann fängt das Tonal an zu wachsen, und es wird ungemein wichtig, so wichtig, dass es den Glanz des Nagual verdunkelt, es zurückdrängt. Von dem Augenblick an, da wir ganz Tonal sind, tun wir nichts anderes, als jenes alte Gefühl der Unvollkommenheit zu verstärken, das uns seit dem Augenblick unserer Geburt begleitet und das uns beständig sagt, dass es noch einen anderen Teil braucht, um uns zu vervollständigen.
Von dem Augenblick an, da wir ganz Tonal werden, fangen wir an, Paare zu bilden. Wir fühlen unsere zwei Seiten, aber wir stellen sie uns immer nur anhand von Gegenständen des Tonal vor. So sagen wir, dass unsere zwei Teile Körper und Seele sind. Oder Geist und Materie. Oder Gut und Böse. Gott und Satan. Aber nie erkennen wir, dass wir nur Gegenstände unserer Insel zu Paare zusammenfassen, ganz ähnlich wie wenn wir Kaffee und Tee, Brot und Tortillas, Chili und Senf paarweise bezeichnen. Wir sind komische Wesen, sage ich dir. Wir tappen im Dunklen, und in unserer Torheit machen wir uns vor, alles zu verstehen.“

„Ich fürchte, ich habe nicht die richtige Frage gestellt“, sagte ich. „Vielleicht verstünden wir uns besser, wenn ich fragte, was sich im einzelnen in diesem Raum außerhalb der Insel befindet?“
„Das zu beantworten ist unmöglich. Würde ich sagen: Nichts, dann würde ich das Nagual nur zu einem Teil des Tonal machen. Man kann nichts anderes sagen, als dass man dort, jenseits der Insel, das Nagual findet.“
„Aber wenn du es das Nagual nennst, bringst du es dann nicht ebenfalls auf der Insel unter?“
„Nein. Ich habe ihm nur einen Namen gegeben, weil ich dich darauf aufmerksam machen wollte.“
„Na schön! Aber indem ich darauf aufmerksam werde, tue ich doch den Schritt, der das Nagual zu einem weiteren Gegenstand meines Tonal macht.“
„Ich fürchte, du verstehst nicht. Ich habe das Tonal und das Nagual als echtes Paar benannt. Etwas anderes habe ich nicht getan.“
Er erinnerte mich daran, dass ich einmal, als ich ihm erklären wollte, warum mir so viel am Sinn der Wörter gelegen sei, die Vorstellung erörtert hatte, dass Kinder vielleicht imstande sind, den Unterschied zwischen Vater und Mutter zu verstehen, bevor sie nicht eine Entwicklungsstufe erreicht haben, auf der sie mit Sinn umgehen können, und dass sie vielleicht glauben könnten, „Vater“ bedeutet „Hosen tragen“, und „Mutter“ bedeute „Rock tragen“ – oder andere Unterscheidungen hinsichtlich der Haartracht, Körpergröße oder Kleidung.
„Sicher tun wir dasselbe mit unseren zwei Teilen“, sagte er. „Wir fühlen, dass es noch eine andere Seite von uns gibt. Aber sobald wir versuchen, diese andere Seite festzumachen, gelangt das Tonal ans Ruder, und als Kommandant ist es ziemlich kleinlich und eifersüchtig. Es blendet uns mit seiner List und zwingt uns, auch noch die leiseste Ahnung von dem anderen Teil des echten Paares, dem Nagual, auszutilgen.“

(aus „Der Ring der Kraft – Don Juan in den Städten“)